3. Mai — Die Reise beginnt
Unser Reiseziel heisst Narvik. Es liegt zum Zeitpunkt, als wir uns in Basel am Bahnhof treffen, 3188 km und 47h Zugfahrt von uns entfernt. Die Reise wird uns weit in den Norden führen. So weit, bis die Gleise enden. Nördlicher kommt man in Europa auf dem Schienenweg nämlich nicht. Genau das Richtige für uns, tönt gut und «challenge accepted». Nur zwei Mal werden wir dabei übrigens umsteigen müssen, in Hamburg und in Stockholm. Nehmen wir die vielen Kilometer und Zugstunden also auf uns. Mutig steigen wir in den ICE, der uns auf der ersten Etappe bis Hamburg fahren wird. Der Zug verlässt Basel SBB pünktlich, was sich aber schnell ändern wird. Nach genau 3.5 km Fahrt (Zwischenbilanz: noch 3184.5 km bis Narvik), steht der Zug aufgrund einer Signalstörung im Badischen Bahnhof aber erst mal still. Da wir genügend Pufferzeit in Hamburg eingeplant haben, stört uns diese Verspätung von 20 Minuten erstmal nicht. Gewissen Problemen kann man vorbeugen, anderen jedoch nicht. Man kann es erahnen, es kommt noch schlimmer. Kurz nach Frankfurt informiert uns der nette Bistromitarbeiter nämlich über eine weitere Abweichung im Betriebsablauf: «Kurze Information: Wir haben leider keinen Kaffee mehr an Bord. Und, bitte halten Sie sich fest, auch kein Bier mehr. Nach Köln sollte es dann Nachschub geben. » Na dann, hoffen wir mal auf grosses Verständnis seitens der Kundschaft und darauf, dass ein deutscher Zug auch ohne Bier verkehren kann. Da wir aber mit zwei netten Menschen seit Basel in interessanten Gesprächen stecken, vergeht die Zeit wie im Flug und wir bekommen nicht mal mit, ob das kulinarische Problem in Köln gelöst werden konnte. Im schönen Hamburg angekommen, haben wir knapp fünf Stunden Zeit durch die Stadt zu ziehen und etwas zu essen. In der U-Bahn werden wir sofort auf unsere grossen Rucksäcke angesprochen. Nachdem wir verraten haben, dass wir aus der Schweiz kommen, meinte der nette Hamburger (mit einer Dose Astra in der Hand), dass es hier keine Berge gäbe und wir uns wohl verfahren hätten. Die Aufmerksamkeit des halben Wagens ist nun auf uns zwei Bergsteiger gerichtet. Nach Bekanntgabe des Reiseziels geht dann ein Raunen durch den Saal. «Ey die zwei Jungs hier fahren heute noch nach Stockholm. Und was habt ihr noch so vor?» Bevor wir die Antworten zu dieser interessanten Frage in der U-Bahn-Talkshow zu hören bekommen, müssen wir auch schon raus.
Nachtzug nach Stockholm
Um 22.02 verlässt dann der blaugrüne Zug der Schwedischen Staatsbahn SJ den Hamburger Hauptbahnhof. Während wir im Bett liegen und aus dem Fenster schauen, zieht draussen die nächtliche Landschaft vorbei.
Nach einiger Zeit überqueren die eindrucksvolle Rendsburger Hochbrücke. Wir sehen die Umrisse eines Schiffs, welches gerade unter der Brücke vorbeizieht und passieren etwas später die Grenze zu Dänemark. Schlafend ziehen wir an Kopenhagen vorbei und überqueren die Öresundbrücke. Es geht nordwärts in Richtung Abenteuer.
4. Mai — Ein Sommertag in Stockholm
Zehn Minuten zu früh ist unser Nachtzug aus dem Süden im sommerlichen Stockholm angekommen.
Ein wunderschöner Tag erwartet uns. Nachdem wir unser Gepäck in einem Souvenirshop am quirligen Drottninggatan hinterlegt haben (die Schliessfächer am Bahnhof kosten ein Gewehr), gehts runter in die Tunnelbana, so heisst die U-Bahn in Stockholm. Wir fahren Richtung Ropsten, um mit der Lidingöbanan nach Gåshaga, der Endstation, zu fahren. Dort kommt Schärenfeeling auf, denn das Züglein hält direkt am Wasser. Was uns auf Lidingö auffällt? Nun, im restlichen Schweden lebt man den Grundsatz «lagom» (mässig, gerade richtig, nicht übertrieben). Auf Lidingö hingegen muss man aufpassen, dass man nicht von einem Tesla, e-Volvo oder einem SUV überfahren wird.
Kaum überlebt, werden wir von den Preisen des schicken Restaurants des Yachtclubs von Gåshaga erschlagen. Nicht mal Zürich kann da mithalten. Wir ergreifen die Flucht, rennen zur Anlegestelle und sitzen schon bald auf einem Schärenhüpfer (Schiffe, welche durch die Schären vor Stockholm tuckern), der uns zurück ins Stadtzentrum schippert. Das Mittagessen kann schwedischer nicht sein: Im altehrwürdigen Restaurant «Prinsen» geniessen wir Köttbullar, Kartoffelstock, Gurkensalat und Preiselbeeren. Rund um uns herum wird der Frühling gefeiert, im Prinsen standesgemäss mit Chablis, Riesling und Moët Chandon. Stockholm ist aus dem Häuschen.
Den Nachmittag verbringen wir auf dem Söder (Södermalm), dem farbigen und verrückten Stadtteil im Süden Stockholms. Ganz Stockholm ist auf den Beinen und saugt die Sonne auf. Teilweise durchaus eher freizügig. In den Pärken der Stadt liegen Menschen, welche die Wärme der Sonne geniessen. Wir stehen auf der «Ersta-Terrassen», schauen hinunter auf die Inseln und Buchten Stockholms: Gamla Stan, Skeppsholmen, Djurgården, dem tiefblauen Strömmen, Nybro- und Vasaviken. Apropos Vasaviken: Wir lächeln mal wieder über die menschliche Selbstüberschätzung, welche sich am Beispiel der Vasa, dem berühmten Schiff, eindrücklich zeigte. Es kenterte im Jahre 1628 nach nur 20 Minuten Fahrt vor der ganzen versammelten Festgemeinde. Schlussendlich war es für Stockholm irgendwie trotzdem ein Erfolg: Das Vasa-Museum, in dem das Schiff heute ausgestellt ist, zählt zu den meistbesuchten Museen Schwedens.
Viel mehr Zeit zum Philosophieren auf dem Söder bleibt uns dann aber nicht. Die Reise in den Norden geht weiter. Also: Gepäck holen, einkaufen und ab zum Bahnhof. Der Nachtzug der Vy verlässt pünktlich um 18.08 Stockholm C. In der goldenen Abendsonne schlängelt sich der Zug durch die nördlichen Vororte Stockholms und taucht bald wieder in die weiten Landschaften mit Wäldern und Seen ein. Bei einem Bierchen im Schlafwagen, der übrigens äusserst sauber und gut im Schuss ist, lassen wir den Tag ausklingen. Es war ein wunderbarer Tag in einer wunderschönen Stadt.
PS: Johnny’s Sorge war, dass unser Abteil im ersten Wagen hinter der Lok liegt. Da die Elch- und Rentierdichte nun laufend zunehmen würde, hupe das Gefährt die ganze Nacht, so die Befürchtung. Wagen 10 liegt dann tatsächlich direkt hinter der stolzen Rc6-Lok der Trafikverket. François freut’s (kann er so doch jederzeit das dynamische Gefährt von der Plattform aus bestaunen), Johnny bedauert es ein wenig, sich in Stockholm keine Ohrenstöpsel besorgt zu haben. Wir sind on the track again.
5. Mai — Über dem Polarkreis
Als wir erwachen und aus dem Fenster des Norrland-Nachtzuges schauen, trauen wir kurz unseren Augen nicht. In Gällivare angekommen, haben wir nicht nur das mittlerweile 1100 km entfernte Stockholm und den Polarkreis hinter uns gelassen, sondern auch den Sommer. Unser Blick schweift über endlos schneebedeckte Weiten und Wälder, leichter Schneefall hat eingesetzt. Wir sind definitiv im «Norrbotten Län», der nördlichsten Provinz Schwedens angekommen. Die Bäume sind nicht mehr so hoch und dicht wie im Süden, hier muss alles der langen Kälte trotzen.
Der Schlaf war erholsam (es wurde wenig gehupt, Elche sowie Rentiere wurden bisher keine gesichtet) und die Fahrt im Nachtzug ein echtes Erlebnis. Im Restaurantwagen gibt es Kaffee, welcher von einer schrulligen Norrländerin mit Pinker Fellmütze, gefärbten Haaren und blauen langen Fingernägel serviert wird. Der Zug ist gefüllt mit Menschen, teilweise auch mit Skiausrüstungen (⛄️!). An dieser Stelle soll Johnnys neue Schlafmaske kurz erwähnt werden. Er erwähnt mehrfach, dass dies ein «Game Changer» sei und wird fortan wohl noch besser schlafen.
Beim Umstieg auf den Bahnersatzbus, der die letzte Stunde nach Narvik fährt, packen wir zum ersten Mal die warme Jacke aus. Uns wird bewusst, wir sind im kalten Norden.
Die 16 stündige Reise hat sich erstaunlich kurz angefühlt. Narvik empfängt uns mit wunderschön sonnigem Wetter.
Narvik ist eine interessante Stadt. Nicht besonders charmant, etwas rau und in atemberaubender Umgebung. Trotzdem finden sich hier nette kleine Restaurants und Kaffees. Diese befinden sich allerdings alle (wirklich alle) an derselben Strasse, was uns zuerst etwas irritiert. Als wir realisieren, dass es jedoch sowieso mehr oder weniger nur eine Strasse in Narvik gibt, sind wir dann auch etwas weniger irritiert. Auf beiden Seiten der Stadt hat man Zugang zum Meer. Vor allem aber wird Narvik von den Erzzügen und den dazugehörigen Schiffs-Verladeanlagen dominiert. Die Züge aus Kiruna, das wir in den kommenden Tagen besuchen werden, fahren zum Glück direkt vor unserem Hotelzimmer entlang. François hat bereits mehrere Rangiermanöver beobachtet und kommentiert. Der Sinn einiger der gesichteten Rangierbewegungen erschloss sich uns spontan und ohne weiteres Fachwissen nicht.
Wir machen einen Spaziergang zum Hafen, geniessen die flache Sonne und die Sauna im Hafen von Narvik.
Natürlich darf auch ein Schwumm im kalten Fjord nicht fehlen. Die Temperatur wird auf maximal 1°C geschätzt, erfrischend ist wohl das passende Adjektiv dafür.
Während wir diese Zeilen schreiben, blicken wir vom Dach des Scandic Hotels auf Narvik, wo gerade ein leeres Erzschiff eingefahren ist und ein langer Erzzug der LKAB seine Last entlädt. Ein endlos wirkender, wunderschöner Sonnenuntergang erleuchtet den Horizont hinter den schneebedeckten Bergen. Bereits jetzt wird es hier nicht mehr vollständig dunkel.
PS: François hat in einem kleinen Bunker am Strassenrand (Was er dort um Himmelswillen suchte?) zum ersten Mal die Wasserdichtigkeit seiner Schuhe geprüft (sie waren wasserdicht). Ob diese auch die geplante Wanderung mitmachen und ob Johnnys Turnschüehli das ebenfalls gut finden, werden wir morgen herausfinden.
6. Mai — Softeis, Eisenerz und Eisbaden
Der erste Tag ohne Zugreise wartet auf uns. Die Sonne scheint wieder seit 03.00 morgens. Gestärkt mit Hotelzmorge vom Feinsten brechen wir zu unserer Wanderung am Meer auf.
Die Wanderung führt uns zuerst ins gegenüberliegende Shopping-Center, welches Johnny seit unserer Ankunft im Fokus hat (während François die Betriebsabläufe studierte). Eine Kappe für Johnny muss her, denn in dieser Stadt weht seit unserer Ankunft ein harscher und kalter Wind. Der Weg führt uns weiter zur Brücke über die Entladegleise der Erzbahn. Ein langer Zug der LKAB, beladen mit Olivin und anderen Mineralien (welche für die Erz-Pellettproduktion in Kiruna benötigt werden) steht bereit, loszufahren. Kommentar von François:
«Wenn der loslegt, dann ist das pure Performance».
Nur zehn Minuten später setzt sich dieser dann auch schon in Bewegung.
Nach ca. fünf Minuten sind die Performance und der Zug vorbei und wir laufen nun wirklich los. Der Weg führt an den beeindruckenden Erzsilos am Hafen entlang und durch einen Tunnel in Richtung Meer. Dort trennt uns nur noch ein gigantisches Logistikgebäude und ein hoher Zaun vom Wasser. Wir kommen weder daran, darüber noch darunter vorbei und müssen wohl oder übel durch den Tunnel zurück.
Wir befinden uns inmitten einer beeindruckenden Industrielandschaft. Wieder oben, kann unsere «Wanderung» dann starten.
Der Weg führt über einen kleinen Hügel durch einen lichten Wald in Richtung Wasser. Dort passieren wir den stillgelegten Flughafen Narvik, Framnes. Der Flughafen wurde 2017 stillgelegt, das Gebäude sieht aber aus, als wäre es gestern noch in Betrieb gewesen. Mangels Brecheisen müssen wir den stillgelegten und gespenstisch wirkenden Flughafen von aussen bestaunen.
Danach geht es bergauf auf einen kleinen Hügel mit einer spektakulären Aussicht auf schneebedeckte Gipfel und tiefblaues Wasser.
Bevor wir die letzten Meter in Angriff nehmen, springen wir ins eiskalte Wasser des Fjords und geniessen das wunderschöne Wetter. Da Johnny ein erfahrener Eisbader ist, traut sich auch François ins kalte Nass. Die Erfrischung hat sich gelohnt und war ein Erlebnis.
Zurück im Städtchen besuchen wir das Kriegsmuseum von Narvik. Eisenerz war (und ist wohl noch immer) eine strategische Ressource in Kriegen, weshalb Narvik insbesondere im 2. Weltkrieg eine zentrale Rolle spielte. Über fünf Jahre war Narvik und sein eisfreier Hafen deshalb von den Nazis besetzt: Es galt «wer Eisen hat, gewinnt den Krieg». Das Museum erklärt eindrücklich, was diese Zeit für die Menschen um Narvik bedeutet hat und dokumentiert ohne Umschweife diese schlimme Zeit. Schwere Kost, während uns aber auch die klaren und zeitlosen Statements von Norwegen zu seiner Neutralität und der Verantwortung, die ein Staat und seine Mitbürger:innen zum Erhalt von Frieden tragen, beeindrucken. Im Zuge der aktuellen weltpolitischen Situation lässt uns die Ausstellung nachdenklich zurück.
Nachmittagsschlaf im Hotel ist angesagt. Das wunderbare Wetter lädt förmlich zu einem Nachtessen am Meer ein. Das Shopping-Center unseres Vertrauens gibt nebst Soft-Ice auch diverse Leckereien her. Auf dem Weg zum Meer schaffen wir es natürlich ein weiteres Mal, eine Sackgasse zu erwischen und die Strecke zurückzugehen. Unser Picnic in einem kleinen Park, der ein Mahnmal der schlimmen Kriegsereignisse ist, ist dann umso schöner. Unterhalb des Parks stehen zwei abgestellte alte Güterwagen, beladen, wie könnte es anders sein, mit Eisenerz. Wir werfen den Blick in Richtung der Förderbänder der LKAB-Verladeanlagen, die wie überdimensionale Giraffen in den wunderschönen Fjord ragen. Irgendwie kommt hier alles dieses intensiven Tages zusammen.
PS: Nach der erwähnten Erfrischung im Fjord geht das Glück gleich weiter. Zufälligerweise führt der Weg am Bahnhof von Narvik vorbei und wir sehen einen Erzzug näher kommen (ehrlicherweise ist es kein Zufall, denn wir haben eine online-Karte der BaneNOR entdeckt, die alle Zugbewegungen auf den Gleisen live abbildet). Mit der gezückten Kamera freuen wir uns also auf den einfahrenden Zug. Im Moment der Wahrheit kommt dann allerdings überraschend ein Zug auf dem anderen Gleis von hinten daher und versperrt den Blick. Ein richtiges Trainspotter Pech, da müssen wir noch üben. Etwas beschämt und unter den amüsierten Blicken der Gäste des Bahnhofkaffees verlassen wir die Bühne.
7. Mai — Kiruna zieht um?
Nach zwei Tagen in Norwegen, geht es heute wieder zurück nach Schweden. Die Minenstadt Kiruna, welche unser heutiges Ziel ist, liegt drei Zugstunden von Narvik entfernt. Wie bereits auf der Hinreise müssen wir mit dem Bahnersatzbus von Narvik nach Björkliden fahren. Von dort geht es mit dem Zug weiter durchs «Fjäll» (Berge), entlang des Sees Torneträsk und durch verschneite wilde Landschaften. Das Gelände wird flacher, am Horizont erscheinen wie aus dem Nichts schwarze Berge aus Schutt, hinter denen dichte Rauchwolken aufsteigen: Kiruna erkennt man von Weitem. Besser gesagt, die Spuren der weltgrössten Eisenerzmine, welche sich seit dem Jahre 1900 in den Berg hineinfrisst. Seit zwei Jahren ist man aber, wenn man in Kiruna mit dem Zug ankommt, noch nicht da: Am Bahnhof muss man sich zwischen dem neuen und dem alten Stadtzentrum entscheiden.
Die nun über 100 Jahre dauernden Bergwerkstätigkeiten führten zu Bodensenkungen und Verwerfungen im Zentrum Kirunas, weshalb die Stadt «umziehen» soll. Da es weder umfassende Dokumentationen noch Reportagen in unseren Breitengraden dazu gibt, wollen wir mit eigenen Augen sehen, was hier in Kiruna vor sich geht.
Der Bus verlässt den Bahnhof und fährt auf einer staubigen Strasse ins «neue Zentrum».
Irgendwie ist hier im «neuen Stadtzentrum» noch nicht so viel Leben. Wir beziehen unser Hotel und nehmen bald den Bus ins «alte Stadtzentrum». Johnny war vor vier Jahren bereits hier und erinnert sich an eine normale schwedische Kleinstadt. Als unser Bus ankommt, sehen wir ein Stadtzentrum, das kurz vor dem Abriss steht.
Sämtliche Geschäfte sind geschlossen, einige hohe Wohnblocks sind bereits ausgehöhlt und ragen wie Gerippe in den Himmel. Überall sieht man Bauschutt und Absperrungen, es sind nur wenige Menschen zu sehen.
Ein einziges Restaurant ist noch geöffnet: Das Pub «The Bishops Arms» serviert noch bis Ende des Monats Burger und Bier.
Wie ein «pièce de résistance» steht es direkt am Ende der gelben Absperrung und strahlt noch etwas an Leben aus. Drinnen merkt man vom Geschehen vor der Tür allerdings nichts.
Nach dem Essen kommen wir mit der Kellnerin und zwei einheimischen Gästen ins Gespräch.
«Kiruna zügelt nicht. Kiruna wird zerstört und sie bauen eine neue Stadt da unten.»
Dies sagt ein junger Mann, der hier in Kiruna Musiklehrer ist.
«Alles ist halb so schlimm, das kommt dann schon», meint ein älterer Herr neben ihm.
Die Kellnerin, die ursprünglich aus Stockholm ist, erklärt uns ihre Sicht. Sie habe noch keine Wohnung bekommen da unten im neuen Kiruna. Es gebe viel zu wenige Wohnungen für alle. Schon gar nicht für diejenigen, die nicht in der Mine arbeiten. Falls sie keine Lösung finde, stehe sie bald ohne Wohnung da. Zudem seien viele Entscheide kaum nachvollziehbar für die Menschen hier. Man habe beispielsweise ein horrend teures Schwimmbad mit Spa-Bereich gebaut, bevor mit dem Bau des neuen Spitals begonnen wurde. Hinzu komme, dass für viele der Prozess auch emotional schwer sei: «Die Leute schauen zu, wie die Häuser, in denen sie aufgewachsen sind, Schritt für Schritt verschwinden.» Gerade für ältere Menschen sei es enorm schwierig, nach Jahrzehnten in eine neue Wohnung zu zügeln. Und die angebotene Hilfe für den Umzug sei kaum ausreichend.
Auf dem Weg nach Hause laufen wir am grossen Plakat der LKAB vorbei, das die finalen Stadtteile auf einer Karte darstellt. «Milliardenhaus» hat jemand mit einem Filzstift auf das Areal des Schwimmbad-Gebäudes geschrieben.
Wir sitzen mal wieder in der Bar im obersten Stock, diesmal im Scandic Hotel Kiruna. Auch hier dürfen wir einen wunderbaren langen Sonnenuntergang erleben. Die Sonne beleuchtet den Horizont hinter den Abraumhügeln der Erzmine und dem alten Kiruna, das es so bald nicht mehr gibt.
8. Mai — Versöhnung mit der neuen Stadt
Wir erwachen im «neuen Kiruna». Ein stahlblauer Himmel verbirgt sich hinter dem Vorhang des grossen Fensters. Doch der Schein trügt hier oben im Fjäll: Draussen ist es nämlich – mit Verlaub – saukalt.
Die Statements von gestern beschäftigen uns noch immer. Die beiden Haltungen «Kiruna wird zerstört» hin zu «kommt schon gut» können unterschiedlicher nicht sein. Und wir diskutieren, dass es ohne die Mine diese Stadt mit 22’000 Einwohner:innen wohl gar nicht geben würde. Dass die Minenbetreiberin LKAB vollständig in staatlicher Hand ist und die Erlöse schlussendlich allen Schwed:innen zugute kommen, wäre in anderen Regionen der Welt vermutlich anders.
Geben wir dem «neuen Kiruna» also eine Chance. Wir durchqueren die Strassen und gedeckten Arkaden, schauen in die Läden sowie in die Kaffees, die mit Menschen gefüllt sind. Im Einkaufszentrum spielen Kinder. Das neue Kiruna ist noch klein, die Strassen führen noch ins Nichts, am Ende der Strassen trifft man auf plattgewalzte Schotterplätze.
Diese weichen aber gemäss den ausgehängten Plänen bald neuen Stadtteilen. Die Strassen besitzen Namen wie «Mitternachtssonnenstrasse», «Kulturstrasse» oder «Erzstrasse». Die Gebäude wirken solide, aber nicht protzig. Unterwegs begegnen wir Schüler:innen, die alle mit einem Laptop unter dem Arm unterwegs zur Schule sind und uns ein «Tjena!» (Hallo!) zurufen. Es gibt doch Leben hier und wenn wir uns an das Statement des älteren Herrn oben im «Bishops Arms» bei den gelben Absperrungen erinnern, ist es angebracht, der neuen Stadt eine Chance zu geben. Schwedenstimmung ist auf jeden Fall schon vorhanden. Espresso House (die schwedische Antwort auf Starbucks, einfach mit Zimtschnecken und so) hat bereits eine Filiale eröffnet, und wir machen dort eine «Fika» (Kaffeepause).
Mit vielen gemischten Eindrücken steigen wir wieder in den Bus, der uns über die staubige Strasse vorbei an den Gerippen zum Bahnhof fährt.
Die riesigen Abraumhalden mit den dampfenden Kaminen kommen wieder in Sicht. Der Norrlandzug nach Boden verlässt Kiruna pünktlich. Wir sind wieder auf Schienen und kommen mit dem Angestellten ins Gespräch, der eben erst noch die Lok angekuppelt hat. Auch er meint, dass Kiruna aktuell ein «verrückter» Ort sei. Später serviert er im Bistro Kaffee, noch später fährt er selber den Zug, während sein Lokführerkollege nun im Bistro Kaffee serviert. Arbeitsteilung «à la Norrlandzug». Wer eine Rc6-Lok fahren kann, kommt schliesslich auch mit der Kaffeemaschine des Bordbistros klar.
Wir stoppen immer wieder aufgrund von diversen Zugskreuzungen mitten im Blaubeerwald und erhalten dadurch eine satte Verspätung. Der Nachtzug zurück nach Stockholm wartet in Boden aber netterweise auf uns. Dieser ist bis auf den letzten Platz ausgebucht, was uns freut: Bestätigt diese hohe Nachfrage doch die Existenz dieser langen, etwas verrückten und wichtigen Lebensader für Nordschweden.
Der Polarkreis liegt hinter uns, die Wälder werden dichter, die Flüsse die wir überqueren sind nicht mehr zugefroren. Während der Nacht werden wir an 14 (!) Bahnhöfen halten, wo Reisende ein- und aussteigen werden. Sie sind geschäftlich unterwegs, machen Ferien oder besuchen Verwandte und Freunde, die weit weg leben. Eine Lebensader eben. Und genau das ist es, was uns an diesen Nachtzügen so fasziniert.
PS: Schwedische Norrland-Züge sind grundsätzlich schlecht geheizt, wie wir feststellen mussten. Vielleicht liegt es daran, dass einheimische Reisende hier Temperaturen über 0°C als «warm» empfinden. Das heisst aber nicht, dass nicht geheizt werden kann. In der Nähe des Eingangs gibt es jeweils einen sogenannten «Drehregler» zum einstellen der Temperatur. Johnny’s erste Handlung ist es jeweils, diesen direkt auf «max.» zu setzen.
Nach ca. einer Minute verrät dann ein leises metallisches Knistern, dass die Heizleistung eingesetzt hat. Nach weiteren zehn Minuten ist dann die Heizung an der Wand so heiss, dass man sich bei Kontakt Brandverletzungen 2. Grades (mittelschwer) zuziehen kann. Bei geschätzten 28°C fühlt sich Johnny dann wohl, während alle anderen Reisenden beginnen ihre Jacken, Mützen und Pullover auszuziehen.
9. & 10. Mai — Erinnerungen auffrischen in Göteborg
Auf die Minute pünktlich kommen wir um halb sieben in Stockholm an. Die Nachtzugreise hat unsere Erwartungen vollumfänglich erfüllt. Züge sind sehr sauber und alles ist gut im Schuss. Johnny hat sich noch eine Dusche gegönnt und startet gut gelaunt in den Tag. Grund dafür ist, dass er kurz vor der Ankunft herausgefunden hat, dass wir mit unserem 1. Klasse Interrail-Ticket kostenlosen Zugang in die SJ-Lounge im Hauptbahnhof in Stockholm haben. Dass heute jedoch «Kristi himmelsfärdsdag» ist und die SJ Lounge daher erst um 11 Uhr öffnet, haben wir übersehen. Die gute Laune droht sich zu verschlechtern (das ist eine Untertreibung).
Wir finden trotzdem noch etwas kleines zum Zmorge und nehmen dann eine Stunde später den Zug Richtung Oslo nach Hallsberg. Den Bahnhof hätten wir fast verschlafen, denn die Sitze der Staatsbahn sind so bequem, dass wir gleich nach Stockholm einschliefen. Von Hallsberg geht es dann mit dem Regionalzug weiter bis nach Göteborg.
Johnny hat in Göteborg vor vier Jahren ein halbes Jahr studiert, weshalb wir natürlich die Plätze und Orte, die ihm viel bedeuten, besuchen. Die zweitgrösste Stadt Schwedens befindet sich stark im Umbruch. In der Stadt entstehen ganze neue Quartiere und ein S-Bahntunnel mit einigen Bahnhöfen, welcher unter der ganzen Stadt durchführt. Ausserdem wird bald das höchste Gebäude Skandinaviens eröffnet, der «Karlatornet». Ein imposantes Bauwerk.
Wer in Göteborg möglichst viel sehen möchte, mietet sich am besten ein Velo. Mit den Drahteseln geht’s nach Lindholmen, auf der anderen Seite des Göta-Älv. Dort ist in den letzten Jahren neben einem grossen Campus der Uni auch ein neuer Park gebaut worden, mit einem Schwimmbad im Meer und bald auch wieder mit einer öffentlichen Sauna. Mit der Fähre geht es wieder über den Fluss. In der Altstadt schauen wir in einigen Läden vorbei und gehen natürlich zu «Da Matteo», wo es guten Kaffee und fantastische Sandwiches gibt.
Wir besuchen die Uni, den lebendigen Stadtteil Haga, geniessen die Aussicht vom Skansen Kronan und natürlich laufen wir durch den «Andra Långgatan» – eine der lebhaftesten Strassen Göteborgs. In einem Szene-Laden startet, just im Moment als wir dort sind, eine Vernissage für eine Foto-Ausstellung mit alten Bildern der lebendigen Strasse.
Wir kriegen ein Bier und lauschen gespannt den Ausführungen des Fotografen. Von diesen poetischen Ausführungen auf Schwedisch verstehen wir jedoch geschätzt nur einen Drittel, wir nicken jedoch am Ende der Sätze zustimmend und freundlich mit. Als dann ein Kind eine Glasstatue von einem Gestell kurzerhand auf den Boden befördert und die Figur auf demselbigen lautstark zerbricht, ziehen wir weiter.
Es beginnt zu regnen (was in Göteborg nicht ganz unüblich ist) und wir sehen das Element Wasser erstmals nach längerer Zeit wieder in flüssiger Form.
Am Abend essen wir in einem alten Kino eine feine Pizza und steigen in ein Tram, welches uns rund eine ganze Stunde durch das nächtliche Göteborg fährt. Mit dem Tram durch Göteborg und aufs Geratewohl an eine Endstation zu fahren, ist der zweite empfehlenswerte Weg, die Stadt zu sehen.
Göteborg ist eine sehr schöne Stadt und wir nächtigen im riesigen, neuen Hotel Scandic. Aus unserem Eckzimmer aus Glasfronten sehen wir vom 7. Stock direkt das Zentrum von Göteborg. Eine absolut spektakuläre Aussicht.
An unserem zweiten Tag besuchen wir die «World of Volvo». Ein neu eröffnetes Museum rund um die Geschichte des Konzerns. Die Architektur des Gebäudes ist spektakulär, der Inhalt ist es nicht. Wir können zwar viele alte Volvos bestaunen und ins Cockpit eines Lastwagens sitzen, der vermittelte Inhalt ist aber primär Marketing für die Marke Volvo.
Der beliebteste Ort der Ausstellung ist übrigens ein grosses Bällebad, wo man mit einem kleinen Bagger baggern kann. Die Schlange ist lang, fast ausschliesslich Männer und Buben warten dort. Wie man so schön sagt, Buben werden nicht älter, nur die Spielzeuge werden teurer. Wem das noch nicht reicht, kann sich in einen dunklen Raum in der Mitte der Ausstellung begeben, wo wirre Farb- und Lichtspiele an die grossen Leinwände projiziert werden. Was das mit Autos, bzw. Volvo zu tun hat, bleibt bis am Schluss ein spannendes Rätsel.
Wir statten der Studentenunterkunft von Johnny noch einen kurzen Besuch ab (ausser der Briefkastenanschrift hat sich nichts verändert, es war trotzdem schön).
Einen Kaffee später geht es auf den Zug ins Landesinnere. Die nächsten Tage werden wir in einem kleinen Haus in Südschweden verbringen und uns etwas vom vielen Zugfahren erholen. Hier wird es also etwas ruhiger werden.
PS: Als wir in Richtung Uni laufen, sitzen zwei Teenager mit je einer Gitarre auf einer Parkbank. Sie singen und spielen «Country Roads» und warten gespannt, dass wir mit «take me home» antworten. Ehrensache natürlich, dass wir hier das Spiel mitspielen und fröhlich «to the place» und «I belong» ergänzend mitträllern. Am Ende des Refrains sind die beiden ausser sich vor Freude: Sie sässen nun schon sehr lange hier und bisher habe niemand mitgesungen.
11. - 13. Mai — Ruhige Tage in Südschweden
Nach den Zugreisen nach Nordschweden, den Eindrücken aus Narvik und Kiruna und frischen Erinnerungen aus Göteborg verbringen wir einige ruhige Tage im Aspelund in Südschweden.
Statt hunderte Kilometer mit dem Zug zurückzulegen, entdecken wir die nächsten Tage die Region um unser Haus mit den Fahrrädern. Zu dieser Jahreszeit ist dies besonders schön. Wir fahren auf Schotterpisten durch Wälder, über Felder und entlang der unzähligen Seen durch die Landschaft Smålands.
Nicht weit von hier wuchs Astrid Lindgren auf und exportierte genau solche Bilder und Stimmungen in die ganze Welt. Vielleicht erwarten wir deshalb hinter jeder Biegung Michel aus Lönneberga, die Kinder aus Bullerbü oder Pippi Langstrumpf. Die scheinen aber anderweitig beschäftigt zu sein, weshalb wir ohne jemanden anzutreffen die wilden Ulvastenarna erreichen. Es handelt sich dabei um Findlinge auf einem Hügel mitten im Wald, welche der Gletscher hier hinterlassen und damit diesen mystischen Platz geschaffen hat.
Am Abend verwandeln wir den Garten in ein Festgelände inkl. Würstchenbude: Wir schauen den ESC live aus Malmö bei Grill und wunderbarem Wetter und freuen uns über den Gewinn von Nemo und der Schweiz. So nah und doch so fern.
Die Eindrücke und Begegnungen der letzten Tage hallen bei uns stark nach. Wir sprechen über die Winterlandschaft im Norden, die uns mit Blick aus dem Fenster und dem wunderbaren Frühlingswetter fast unwirklich erscheint. Wir sind noch immer im selben Land, es fühlt sich aber an, als seien wir an einem ganz anderen Ort.
Ebenso sprechen wir über die vielen Menschen (und ein bisschen auch über die Schienenfahrzeuge mit klingenden Namen wie beispielsweise Rc6, X2000 oder Krösatågen, die wir liebevoll «Chrööse» nennen), die unsere weite Reise in den Norden und zurück möglich gemacht haben. Und über die Lokführer:innen, die diese langen Strecken durch die Nacht fahren, die Menschen die in Hotels, Restaurants und Nachtzügen arbeiten, die für gemachte Betten, saubere Züge und frischen Kaffee gesorgt haben.
Der Frühling, den wir in Südschweden erleben, gibt uns viel Energie. Am nahe gelegenen See mit Badestrand sind wir ganz alleine, die Sommersaison ist noch weit weg. Mit einigen Handwerkern und Schülern geniessen wir das kulinarische Highlight Schwedens schlechthin: Eine Pizza «Sveriges Special» (Pizza mit Kebabfleisch und reichlich Bernaise-Sauce) vom lokalen Take-Away und fühlen uns ein bisschen, als wären wir in Südschweden zuhause.
Die Tage vergehen schnell und die Heimreise steht an. Mit unseren Rucksäcken stolpern wir wieder zur Bushaltestelle durch den Wald.
Mit einiger Verspätung steigen wir schliesslich in den Zug nach Hamburg ein, unsere letzte Fahrt im Nachtzug auf dieser Reise beginnt. Durch das Fenster schauen wir noch einmal auf die schwedischen Seen und Wälder, die in der Abendsonne glitzern. Kurz nach Malmö schnarchen wir dann in die Nacht und verlassen die Skandinavische Halbinsel über die Öresundbrücke.
PS: Apropos Brücken: Brücken besitzen die Eigenschaft, dass man sie in beide Richtungen überqueren kann, weshalb wir hier bald wieder aufkreuzen werden. Auf ein neues Abenteuer!